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Soulfood

Herausgegeben von Susann in Allgemeines · 13/12/2015 14:24:00
GESEGNETE ZEIT

Ich wünsche euch allen eine gesegnete und geruhsame Adventszeit. Zugleich möchte ich allen fürs Lesen und Loben der Blogs danken.

Weil ich sehr gerne Geschichten fabuliere wurde dieser etliche Seiten umfassende Blog zum Wintermärchen, den ich unter meinem Pseudonym geschrieben habe.
 
Frohe Weihnacht euch allen et à bientôt, Susann
 
Soulfood - A Winters Tale
Roisin Murdoch blickte verdutzt in das Schaufenster, um den Titel des Kochbuchs nochmals zu lesen. „Soulfood“ von Roisin Murdoch. Ein Kochbuch im Riesenformat, kaum zu blättern . Sie fragte sich wie ihre Namensvetterin bloss auf ein solch unhandliches Format hatte kommen können. Sie überlegte einen Moment lang, ob sie weitergehen sollte und betrat dann doch die Buchhandlung. Gespannt vor allem auf das Autorenfoto.

„Madame geht es Ihnen besser oder soll ich einen Arzt rufen?“ fragte der erschreckte Buchhändler während er ihr Luft zufächelte. Langsam setzte ihre Erinnerung wieder ein. Der Schock sich selber auf der Innenklappe als Autorin zu erkennen, einem Buch das sie nie geschrieben hatte. Danach kippte sie um.

Monsieur Renard kauerte besorgt neben ihr am Boden und kratzte sich nervös an der Glatze. Seltsam, dass die Autorin beim Anblick ihres eigenen Werkes in Ohnmacht gefallen war.  „Madame trinken Sie einen Café mit mir, danach wird es Ihnen gleich besser gehen“ bot er der immer noch bleichen Frau an. Anstelle von Café brachte er ihr einen Cognac und allmählich kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück.

Sie verkündete ihm, dass ihr Name Roisin Murdoch sei. Sie schreibe zwar sehr gerne für den Haus­gebrauch, sei aber unmöglich die Kochbuchautorin; denn sie könne nicht mal Zwiebeln schneiden, ohne sich die Finger in Einzelteile zu zerkleinern. Dann ging ihr ein Licht auf.

Schon längere Zeit drängte sie ihr Bruder ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben und zu veröffentlichen. „Das was wir beide erlebt haben, gehört erzählt“ meinte er. „Nein, das klingt nach Kitschroman“ weigerte sie sich standhaft. Nicht, dass das wahr gewesen wäre, aber sie wäre sich blöd vorgekommen, ein solches Buch zu veröffentlichen. Geistig sah sie ihr Buch im Regal zwischen irgendwelchen schrecklichen Liebesdramen und Lebenshilfen angesiedelt. Sie musste zugeben, sein Trick war clever. Mit diesem Werbefeldzug in ihrem Namen und mit ihrem Bild ein Kochbuch zu veröffentlichen, um ins Gerede zu kommen war nicht schlecht. „Oh du hast das Kochbuch von Roisin Murdoch gekauft! Ich dachte die macht nur Modezeichnungen. Dass die so toll kochen kann, wo die doch so eine verworrene Lebensgeschichte hat“. Oder: „Wusstest du nicht, dass diese Frau neben dem Kochbuch jetzt auch noch ihre Lebensgeschichte veröffentlicht hat.“ So wahrscheinlich hatte er sich das ausgemalt.

Nach dem Cognac bei Monsieur Renard kehrte sie in ihr kleines Appartement am Boulevard Haussmann zurück und fuhr den PC hoch während dicke Schneewolken den Himmel von Paris bedeckten.

Roisin Murdoch wurde an einem sonnigen Frühlingsmorgen vor 54 Jahren in Ulster, Nordirland, als Jüngstes von acht Kindern geboren. Mutter Alkoholikerin, Vater unbekannt. Roisins älteste Schwester, die 12-jährige Sharon zog auch sie gross. Niemand schien für die Murdoch Kinder verantwortlich zu sein. Weder Verwandte noch Freunde. Nur freundliche Nachbarn, die zusammen das Geld für die Miete aufbrachten. Aus Menschenliebe. Dennoch bekam irgendwann das Jugendamt davon Wind und liess alle Kinder in fremde Familien aufteilen.

Für Roisin begann damit eine Odyssee. Mit sechs Jahren lebte sie bereits bei der dritten Familie. Diese war genauso wie die leibliche Mutter dazu nicht im Stande. Bei einem der Kontrollbesuche des Jugendamts wurde entschieden, Roisin in ein von katholischen Schwestern geführtes Kinderheim zu stecken. Ihr Leben besserte sich allerdings nicht. Arbeit, Gebete und schlechtes Essen beherrschten ihren Alltag.

Mit zwölf riss sie aus und ging nach Belfast. Keiner machte sich je die Mühe nach ihr zu suchen. Von nun an lebte Roisin als Obdachlose und Bettlerin in Abbruchhäuser. Für sie bedeutete dies Freiheit. Die Siebziger Jahre waren die Zeit des Umbruchs und Revolution innerhalb der gesamten Gesellschaft. Die Jugend rebellierte erfolgreicher denn je gegen die Eltern, die Gesellschaft und den Staat. Die Troubles in Nordirland erreichten ihren Höhepunkt. Obwohl Roisin auf der Strasse lebte, hatte sie immer mehr Pennies im Sack als die andern Bettler. Sie stahl nicht, sie trank nicht, sie prostituierte sich nicht. Die Menschen schienen zu ihr einfach freundlicher.

Irgendwann entdeckte Roisin ein Plakat, das den Gig einer der grössten Bands ankündigte. Sie wollte unbedingt an diesem Tag vors Stadium tigern, um die mal live zu hören. Sie bettelte, was das Zeugs hielt. Tatsächlich sammelte sie bis zum Tag des Gigs 58 Pfund. Davon kaufte sie sich auf dem Flohmarkt ein langes weinrotes Samtkleid und einen schwarzen Kajalstift. In der Notschlaf­stelle duschte sie, schminkte sich stark und sah viel älter als fünfzehn aus.

An diesem Abend war sie zum ersten Mal in ihrem Leben zugekifft und erinnerte sich nur noch schwach, wie der Sänger der Band sie aufgegabelt hatte. Am andern Morgen als sie ihn neben sich nackt schlafen sah, kamen ihr ein paar Bilder hoch. Mein Gott dachte sie beschämt, suchte ihre Kleider zusammen, um leise wegzu­schleichen. Als ob er ihre Gedanken gehört hätte, erwachte er und lächelte sie an. „Hej Kleines. Keine Panik! Brauchst dich für nichts zu schämen. Ich will dich mit auf Tournee mitnehmen. Wir fliegen noch heute nach Kalifornien. Wenn du willst, kannst du bei mir bleiben.“ Sie rieb sich die Augen und konnte das Gehörte kaum fassen. Weg! Weit weg. Endlich Flucht aus ihrer Armut und dem Schmutz. „Sagst deinen Eltern besser nix“ meinte er noch. Dass sie über die sowieso nichts wusste verschwieg sie. Auch, dass sie auf der Strasse gelebt hatte.

So kam es, dass Roisin, eine 15-jährige Ausreisserin aus Ulster und ohne gültigen Pass, in einem Privatjet als neueste Freundin des Sängers nach Kalifornien flog. Es interessierte niemand, dass sie keine Papiere hatte. Der Sänger schlug ihr vor, sie auf der Stelle noch zu heiraten, dann sei das Problem gelöst. Was tatsächlich dann auch stimmte. Für eine gewisse Zeit jedenfalls. Für Roisin begann ein Luxusleben. Seit der Blitzhochzeit hatte sie auf einmal sehr viel Geld, sehr viele Freiheiten und viele neue Freunde. Freunde? Heute schüttelt sie darüber den Kopf. Nein! Freunde waren das keine. Schmarotzer höchstens. Alle zusammen meist auf irgendwelchen Drogen und Parties. Sie bekam vieles nicht richtig mit. Auch nicht, dass ihr Ehemann sie bereits einen Monat nach der Hochzeit zum ersten Mal betrog. Erst als es ihr andere unter die Nase rieben, dass er sie ständig betrügen würde, begann sie hellhörig zu werden. Es war zwar die Zeit der Liberation, doch in ihrem Innersten war Roisin Katholikin geblieben. Sie verzieh es ihm nicht.

Die Scheidung wurde etwa im gleichen Hauruckverfahren durchgezogen wie die Heirat. Gestrandet in einem fremden Land, wo sie eigentlich kaum jemand kannte. Mit ihrem beinah letzten Geld buchte sie einen Flug nach NYC und packte ihren Kram zusammen. Schloss die Türe hinter sich. Fest entschlossen sich dem Leben erneut zu stellen.

„Was hast du dir alles angetan, Roisin?“ fragte sie sich an diesem kalten Morgen im Dezember. Der Schnee lag über einen Meter hoch an der Upper East Side. Der Verkehr war erlahmt, die Stadt in dickes Weiss getaucht. Von ihrem Apartment aus sah sie direkt auf den Central Park. „Dieser Anblick fasziniert mich immer noch jeden Tag aufs Neue“ dachte sie glücklich. „Mein Gott! Aus der tiefsten Gosse bin ich emporgestiegen und bin nun am Höhepunkt meines Lebens angelangt. Aber ist das alles? Reicht dies alles?“ Die Fragen, die sie sich stellte, waren keine einfachen. In der Rückblende auf die vergangenen zehn Jahre hatte sie sich allerhand Fürchterliches eingestehen müssen.

Zum Beispiel wie sie vor langer Zeit in NYC ankam und erstmals strandete. Sie erlebte Rudi Giulianis Härte gegen Penner, Bettler und Kriminelle am eigenen Leib. Zählte sie zwar nur zu den beiden erstgenannten, doch blieb der Makel lange Zeit an ihr haften.

Der erste Winter in Manhattan war der Schrecklichste in ihrem Leben. Nicht nur die Temperaturen waren eisig, auch die Menschen. Sie hatte an es an einem Nachmittag geschafft, in der Suppenküche bis zum Eindunkeln bleiben zu können. Doch dann schickte man sie in die Kälte zurück. Sie ging auf der Fifth Avenue bis zum Bryant Park. Blickte ein wenig neidisch in die Schaufenster der teuren Geschäfte. Beobachtete eine Frau, die Kinderschuhe auswählte. Das Paar bestimmt um 300 Dollar. Einen Mann der ein sich ein funkelndes Saphirarmbandzeigen liess. Ob für die Ehefrau oder Freundin konnte sie nicht herausfinden. Es war ihr auch egal. Schliesslich fror sie so erbärmlich, dass sie in die U-Bahnstation hinab stieg, um sich unten aufzuwärmen.

Dann geschah etwas Schreckliches. Sie sah eben noch wie ein Schwarzer von einem Weissen niedergestochen wurde, welcher dann flüchtend die Treppen hoch rannte. Sie anrempelte und zu Boden riss. Sie schrie laut um Hilfe, doch er entkam. Menschen liefen zusammen. Jemand schien Arzt zu sein und versuchte nun den Schwarzen zu retten, während jemand anders den NYPD und die Rettung rief. Kurze Zeit später wimmelte es in der U-Bahnstation von Uniformierten. Roisin sass die ganze Zeit über regungslos und geschockt neben dem schwerverletzten Mann und hielt seine Hand.

Der rothaarige NYPD-Officer riss sie aus ihrem Schock und begann ihr Fragen zu stellen. Erstaunt stellte sie fest wie respektvoll er sie behandelte. Später auf dem Polizeirevier gab sie ihre Zeugenaus­sage nochmals zu Protokoll. Schwierig wurde es erst, als der Polizist ihren Pass begutachtete und sie nach ihrer Adresse fragte. Zum ersten Mal schämte sie sich Jemandem einzugestehen, dass sie auf der Strasse lebte. Sie schämte sich dafür es einem ihrer alten Landsleute anvertrauen zu müssen. An seinem Dialekt hatte sie erkannt, dass er nach Ulster klang, wie sie.

Ob sie Verwandte in Irland habe wollte er wissen „Keine Ahnung. Ich wurde als kleines Kind von meinen Geschwistern getrennt. Ich weiss nicht was aus ihnen geworden ist.“ Sie erzählte ihm von der schrecklichen Zeit bei den Nonnen im Kinderheim. Etwas in ihm wurde hellhörig und so bat er sie, sich mit ihm nach Feierabend im Coffeeshop um die Ecke zu treffen, was sie nach längerem Zögern zusagte. Tatsächlich hielt er Wort und traf sie ein paar Stunden später.

„Heisst du wirklich Roisin?“ fragte er sie später. In ihrem bei der Heirat ausgestellten Pass stand nämlich Rosmary, eine weitere Lebenslüge. Sie antwortete „So rief man mich jedenfalls all die Jahre, an die ich mich erinnern kann.“ Als sie endete hatte sie ihm beinah ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Shane, der NYPD-Polizist, schwieg lange und überwand dann endlich sein Zögern. „Könntest du dir vorstellen, dass wir vielleicht Geschwister sind?“ verblüfft starrte sie ihn an. „Was? Wir Geschwister?“ die Worte blieben ihr im Hals stecken. „Wie kommst du denn darauf?“ „Ach ich weiss auch nicht recht, bloss so eine Vorstellung. Vielleicht weil ich ebenfalls für eine gewisse Zeit von einem Kinderheim ins Nächste wanderte. Hab keine Ahnung, was aus meinen acht Geschwistern wurde. Meine Mutter soll sich zu Tode gesoffen haben. Das habe ich irgendwann mal herausbekom­men. Aber was aus den Geschwistern wurde, fand ich bis heute nicht heraus.“ Nach diesen Worten schwiegen beide lange. „Weshalb kamst du nach NYC ?“ unterbrach Roisin irgendwann das Schweigen. Er be­gann zu erzählen.

„Ich erinnere mich als wärs gestern gewesen! Jeden Morgen um 6 Uhr riss man mich sonst fürs Bodenschrubben aus dem Schlaf. Doch an diesem Morgen war alles anders. Man brachte mich direkt ins Büro des Abts. Ich hatte grässliche Angst, was mich erwarten würde. Am Tisch sassen der Abt und ein Mann im schwarzen Anzug und einem Zylinder auf dem Kopf. Der Fremde machte mir anfänglich ein wenig Angst, doch als er zu sprechen begann verflog sie. Gütig fragte er mich mit leichtem amerikanischen Akzent wie ich heisse, wie alt ich sei und ob ich in New York City leben möchte. Der Abt habe ihm erzählt, dass meine Eltern tot seien und man nicht wisse, wo meine Geschwister leben würden. Mir schlug das Herz bis zum Hals. New York City. Ob ich dort leben möchte. Mein vor Freude und Glück überwältigtes Ja kam allerdings stammelnd.

Mr James Sinclair war reich. Sehr reich sogar. Seine Frau Maureen und er führten eine glückliche, aber kinderlose Ehe. Du kannst dir deshalb vorstellen, dass ich als kleiner sechs Jähriger nach Strich und Faden verwöhnt wurde. Ich lebte im Paradies. Sie liebten mich wie ihr eigenes Kind. Ich erlebte zum ersten Mal in meinem Leben Liebe, Güte und Geborgenheit.

Wir lebten direkt am Central Park an der Upper East Side. Im Winter konnte ich den Schlittschuh­läufern auf dem Reservoir von meinem Fenster aus zusehen. An Weihnachten, wenn meine Verwandten zu Besuch kamen, teilte ich das Zimmer mit Pitty, der mich schnell wie einen eigenen Bruder liebte. Stundenlang drückten wir gemeinsam die Nase am Fenster platt. Wir bettel­ten lange Zeit bis uns Audrey, seine Mutter, jedem von uns ein paar nagelneue Schlittschuhe schenkte, die wir dann noch am gleichen Tag einweihten. Stundenlang kurvten wir auf dem Eis herum bis wir blau vor Kälte waren. Der Butler stand am Rand und erwartete uns mit dampfender heisser Schokolade und Ingwerkeksen.

Stell dir ein solches Leben vor. Es war ein Leben voller Bücher, Schachpartien, Klavierstunden, Schlittschuh­fahren, schönen Gesprächen und Liebe. Ich kniff mich jeden Morgen in den Arm um zu wissen, dass ich nicht träumte und alles wahr ist.

Die dritte Weihnachten kam und mit ihr Pitty, Audrey und Sean, Mr Sinclairs Bruder. Liebevoll nannte ich ihn so, obwohl er wollte, dass ich ihn Sean nannte, so wie ich Maureen und die andern beim Namen rief. Pitty und ich waren nun mittlerweile fast zehn Jahre alt als es geschah. Das Unfassbare. Das Grauenvolle, das mich Polizist werden liess.

Pitty und ich kurvten wie immer um den armen schlotternden Butler herum, der wie jedes Mal mit Proviant auf uns wartete. Pitty sagte mir, dass er auf mich bei der Trauerweide warten würde und wir dann ein Wettrennen machen. Sieger war, wer am schnellsten beim Butler ankam. Weil sich meine Schnürsenkel geöffnet hatten, die ich erst wieder zubinden musste, sah ich ihm nicht nach. Dann hörte ich Pitty schreien. Grauenhaft schreien. Dann verstummten auf einmal seine Schreie. Ich weiss nicht was grauenhafter war; die plötzliche Stille oder seine Schreie. Nie werde ich diesen Anblick vergessen, als ich ihn fand. Der Butler schlitterte neben mir übers Eis und landete Gesicht voran in Pittys Blut. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.“

Shane verstummte. Tränen liefen über sein blasses Gesicht. Roisin war geschockt. Was für eine fürchterliche Tragödie! Nie zuvor hatte sie so etwas Schreckliches gehört. Einem Kind die Kehle durchzuschneiden schien ihr das Grauenhafteste. „Hat man den Täter gefunden?“ fragte sie ihn, doch er schüttelte den Kopf. „Nein, bis heute nicht. „Weisst du, dieses furchtbare Erlebnishaben wir alle nie richtig verkraftet. Vielleicht ging ich deshalb zum NYPD.“ 

Shane schwieg erneut. Wieder war es Roisin, die das Schweigen durchbrach. „Was macht dich glauben, dass wir Geschwister sein könnten, Shane?“ „Sieh mal dein Gesicht im Spiegel an, dann meins“ beantwortete er ihre Frage. „Zudem kann ich fühlen, wie du denkst!“ schloss er.

Nach diesen Worten brachen sie gemeinsam auf in seine geschmackvolle und teuer eingerichtete Wohnung am Central Park. „Was geschah dann weiter?“ „Erstaunlich ist die Tatsache, dass mir niemand aus der Familie die Schuld dafür gab. Bis zu ihrem Tod vor ein paar Jahren blieb ich ihr geliebtes Kind. Meine inneren Schuldgefühle aber blieben. Erst eine umfassende Psychotherapie half mir, die Schuld ein wenig abzubauen und mich mit mir zu versöhnen“ endete Shane. Das Schweigen dauerte dieses Mal noch länger.

Viele Gedanken gingen Roisin durch den Kopf. Bis zu dem Moment, wo sie Zeugin eines Verbrechens wurde, schien ihr Leben mit ihr gnädig umgegangen zu sein. Gut, die Erfahrungen auf der Strasse waren auch nicht ohne; aber wie er jahrelange Schuldgefühle herumzuschleppen, kannte sie zum Glück nicht. Er tat ihr leid.

„Shane, wie geht es nun weiter mit uns? In mir fühle ich tief, dass wir Geschwister sind, doch wissen tun wir es nicht. Du bist Polizist, ich eine Obdachlose. Du lebst in einem schönen Apartment, ich auf der Strasse. Bin auf die Münzen anderer Leute angewiesen, damit ich mir einmal im Tag etwas Warmes zu essen kaufen kann. Du verdienst regelmässig dein Geld und lebst behaglich. Hattest das Glück, dass dich gute Menschen aufnahmen und dich liebten, trotz all dem Schmerz, den diese Leute erfahren haben. Mich vermisst niemand. Keiner.“ Bei diesen Worten traten zum ersten Mal seit langem Tränen in ihre Augen. „Wohin würdest du gehen, wenn ich dich zurück auf die Strasse stellen würde?“ fragte sie Shane. „Paris oder Marseille; ich weiss es nicht so genau“ antwortete sie spontan.

„Meinst du nicht, dass wir versuchen sollten, dir ein anständiges Leben zurück zu geben?“ „Wie tun wir das Shane? Ich habe noch nie gearbeitet. Lange Zeit nahm ich Drogen und gab mich mit Menschen ab, die genau gleich waren wie ich. Beziehungsaufbau gab es nicht. Auf der Strasse gilt es bloss zu überleben. Nur der Stärkste gewinnt“ „Naja, so viel anders ist das auch nicht im Berufs­leben“ grinste er sie an. „Warum bleibst du nicht eine Zeitlang hier? Gehst aufs College oder machst eine Ausbildung. Das Gästezimmer mit eigenem Bad steht dir zur Verfügung. Zudem kann ich auf dich aufpassen und wäre auch nicht immer alleine. Ich kann dir helfen, ein Leben zu führen, das dir vielleicht immer gefehlt hat. Miete brauchst du mir keine zu bezahlen, denn ich verdiene nicht schlecht und meine Familie hinterliess mir sehr viel Geld. Was denkst du?“. Sie konnte nur nicken. Das war vor exakt neun Jahren an einem Wintertag kurz vor Weihnachten gewesen.

Ein paar Wochen später schickte sie aus purer Neugierde über ihr wieder gefundenes Zeichentalent einem Modeverlag ein paar Probezeichnungen zu. Das Echo war erstaunlich; man liess sie diverse Kleiderentwürfe zeichnen, war begeistert und stellte sie ein. Roisin verdiente nun ihr erstes eigenes Geld.

Die Menschen dort waren sehr freundlich und staunten über ihr Naturtalent. Sie wollten ihr auf den Zahn fühlen, wo sie es denn über so lange Jahre hatte versteckt halten können. Doch sie hielt sich bedeckt und gab über ihre Vergangenheit nichts preis. Zu tief steckte in ihr immer noch die Scham über ihre Vergangenheit als Bettlerin und Süchtige. Zwar hatte sie die Vergangenheit abgeschlossen; dennoch wähnte sie sich in einem Märchen. Sie war abergläubisch genug zu glauben, dass dieses durch die Schatten der Vergangenheit enden könnte. Deshalb schwieg sie. Es ging ihr gut, materiell und emotional. Der Chefredaktor eines berühmten Modemagazins, dem sie damals ihre Zeichnungen als ersten vorgelegt hatte, war in sie verliebt. Schon bald turtelten sie durch die Redaktion und ihr Leben war glücklich. Mit ihren Zeichnungen begann sie sehr viel Geld zu verdienen. Bald kaufte sie sich ein eigenes kleines Appartement an der West Side auf den Central Park. Durch ihre Liebes­beziehung kam sie mit sehr wichtigen Persönlichkeiten aus der Modewelt in Berührung. Ihr Bruder war über ihren Auszug auch nicht ganz unglücklich. Er heiratete kurz darauf seine schwangere Freundin und das Platzproblem war gelöst.

Roisin arbeitete gerade an einem Entwurf für Donna Karan als ihre Assistentin ein Anruf aus Paris durchstellte. Am andern Ende war Monsieur Yves St. Laurent persönlich, der sie nach Paris einlud. Ihre Zeichnungen würden ihn begeistern.

Eine Woche später landete sie in Paris. Das Taxi brachte sie direkt nach La Villette. Dort in einem schönen alten Haus lebte der Mâitre. Galant empfing er sie im violetten Salon. An den Wänden hing moderne Kunst mit alten Meistern gemischt und überall gab es Spiegel. Sie traute sich kaum auf einen der purpurnen Diwane hinzusitzen. Er war sehr freundlich und lobte ihre Zeichnungen aufs Höchste. Er liess ziemlich unverblümt durchblicken, dass er sie in seiner Entourage aufnehmen wollte. Darauf stiessen sie mit Kristallgläsern an.

Ein halbes Jahr später kaufte sie sich ein Appartement am Boulevard Haussmann und lud ihn mit seinem Freund zum Diner ein. Zwinkernd und ein wenig nuschelnd flüsterte er dann später vertraulich , dass er sie schon damals in ihrem Strandhaus an der Küste von Kalifornien für ihre Zeichnungen bewundert hatte. Entsetzt starrte sie ihn an. Doch er versprach ihr, dass niemand über ihre Vergangenheit auch nur ein Sterbenswort erfahren würde. Er hielt dieses Versprechen.

Am andern Tag sprach sie mit nur einem einzigen Menschen darüber, ihrem Bruder. Shane wollte unbedingt, dass sie ihre Lebensgeschichten niederschrieb. Doch sie war noch immer unschlüssig.

Der Himmel war wolkenverhangen. Schneewolken über Paris. Roisin war glücklich. Yves St. Laurent hatte ihre neuen Entwürfe angenommen und die Näherinnen und Stickerinnen begannen mit ihrer Arbeit. Sie beschloss einen kleinen Spaziergang rund um die Madeleine zu machen, betrachtete die Schaufenster und kam an einer Buchhandlung vorbei. Verdutzt hielt sie inne, um den Titel des Kochbuchs nochmals zu lesen. „Soulfood“ von Roisin Murdoch. Ein Kochbuch im Riesenformat, kaum zu blättern . Sie fragte sich wie ihre Namensvetterin bloss auf ein solch unhandliches Format hatte kommen können und ging hinein.....
 
Sionnach, Dezember 2015 



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